Vom Kampf um die SIA-Honorarformel im Bauplanungsgewerbe (ab 2020)

Lesedauer ca. 20 Minuten. –


Vorbemerkungen

Dies ist der zweite einer kleinen Reihe von Blogbeiträgen, die sich mit den teilweise dramatischen Entwicklungen im baulichen Honorarwesen der Schweiz seit etwa 2018 befassen. Aus lese-ökonomischen Gründen kann es sinnvoll sein, zuerst eine Zusammenfassung der Beiträge anzusehen. Diese befindet sich im Anhang zum letzten Beitrag «Alles ruhig im baulichen Honorarwesen (Mai 2023)». Man findet den genannten Anhang mit der Zusammenfassung hier >>>

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Wer sich die aktuelle SIA-Honorarordnung des Ausgabejahrs 2020 für Architekten anschaut, reibt sich verwundert die Augen: Die traditionelle Honorarformel für die bausummenabhängige Honorarermittlung ist dort nicht mehr enthalten. Für den interessierten Beobachter des Bauplanungsmarktes kommt der Rückzug jedoch nicht unerwartet. Die Wettbewerbskommission des Bundes (WEKO) hat 2017 nämlich Vorabklärungen gegen den SIA eingeleitet, weil sie vermutet hat, dass dessen Honorarberechnungsart wettbewerbshemmend sein könnte.

Der Rückzug der Formel durch den SIA ist also keine Überraschung. Wirklich überraschend ist aber, dass es dadurch keinen Aufruhr in der Planerbranche gibt. Man nimmt die Absenz der traditionsreichen Honorarformel mit einem Schulterzucken zur Kenntnis, sofern man es überhaupt bemerkt. – Die Älteren unter uns werden sich noch an die Zeit um 2003 erinnern. In diesem Jahr ist die Honorarformel grundlegend angepasst worden, und schon damals auf Druck der WEKO. Diese Revision hat einen gewaltigen Aufruhr in der Planerbranche verursacht. Und jetzt wird gleich die ganze Formel zurückgezogen, und es gibt kaum Turbulenzen. – Was ist hier bloss los?

Des Rätsels Lösung für den fehlenden Aufschrei liegt darin, dass unter gewissen Bedingungen einfach die bisherige Ausgabe der Honorarordnung aus dem Jahr 2014 weiterverwendet werden kann, welche die WEKO eigentlich hat verbieten wollen. Die Restriktionen zur Benutzung scheinen in der Praxis aber so gering zu sein, dass die Anwendung dieser Ausgabe heute praktisch der Normalfall ist. Die Planer können ihre Honorare somit weiterhin auf die gewohnte Art kalkulieren, einfach mit der alten Honorarordnung der Ausgabe 2014. Sie haben gar keinen Grund zur Klage.

Diese sonderbare Entwicklung im Bauplanungsmarkt ruft natürlich nach Erklärungen. Diesen wollen wir im vorliegenden Blogbeitrag nachgehen.

Zuerst unternehmen wir einen kurzen Streifzug in die historische Entwicklung des Honorarwesens.


Anmerkung zur Honorarordnung, die in diesem Blogbeitrag besprochen wird
Stellvertretend für die Familie der Leistungs- und Honorarordnungen (LHO) des SIA wird diejenige der Architekten besprochen, und zwar die SIA LHO 102 (Architekten).
In der Ausgabe 2014 ist die Honorarformel für die bausummenabhängige Honorarermittlung in Art. 7 SIA LHO enthalten. Sie heisst offiziell «Honorarberechnung nach den aufwandbestimmenden Baukosten», wird aber oft als Zeitaufwandmodell bezeichnet.
In der Ausgabe 2020 ist diese Honorarformel nicht mehr aufgeführt.

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1. Historischer Rückblick zum SIA-Honorarwesen

Der Konflikt zwischen dem SIA und der WEKO ist schon alt. Er geht zurück auf die Zeit ab etwa 1995. In diesem Jahr wird das Kartellrecht revidiert, und nun verfügt die WEKO über die nötigen Instrumente, um effizient gegen Preisabsprachen vorzugehen.

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1.1 Das Ende des Kostentarifs und das Zeitaufwandmodell 2003

Der traditionelle Kostentarif, den es in der Zeit um das Jahr 2000 schon Jahrzehnte gibt, ist der WEKO ein Dorn im Auge. Er hat zu stark den Charakter einer Preisabsprache. Der Konflikt mit dem SIA eskaliert zusehends, und Ende 2002 hört auf Druck der WEKO der Kostentarif faktisch auf zu existieren.

2003 stellt der SIA eine neue Honorarberechnungsmethode vor, die in kartellrechtlicher Hinsicht weniger bedenklich ist: das Zeitaufwandmodell. Er hat mit der WEKO vereinbaren stundenansazukönnen, dass mit der modifizierten Honorarformel baukostenabhängig der mutmassliche Zeitaufwand für die Planungsaufgabe berechnet wird, aber nicht mehr direkt das Honorar. Die Stundenansätze (oft in Form eines mittleren Stundenansatzes) müssen die Planungsfirmen seither selber kalkulieren und in die Honorarberechnung einsetzen. – Eine weitere Neuerung des Zeitaufwandmodells ist die Berücksichtigung der individuellen Produktivität des Planerteams für die Ermittlung des Zeitaufwandes. Dafür wird neu der so genannte Teamfaktor in die Honorarformel eingefügt.


Literaturhinweis
Die historische Entwicklung des SIA-Honorarwesens wird in diesem Blogbeitrag nur grob skizziert. Wer sich näher damit befassen möchte, sei auf folgendes Buch von mir verwiesen:
Bauplanerhonorare – Ratgeber für Bauherren (2017).
Siehe Kapitel 3: Kurze Geschichte des Honorarwesens in der Bauplanung (Seiten 23 bis 32).
Nähere Angaben zum Buch hier >>>

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1.2 Erneuter Konflikt mit der WEKO und Übergangslösung

Rund fünfzehn Jahre dauert der Burgfrieden zwischen WEKO und SIA. Im Herbst 2017 meldet sich die WEKO wieder beim SIA und teilt mit, dass sie erneut Vorabklärungen aufgenommen habe, da die Methode der Honorarberechnung kartellrechtlich immer noch problematisch sein könnte. Da allfällige Bussen für den SIA existenzbedrohend wären, reagiert der SIA sofort und erstellt in Absprache mit der WEKO eine abgeänderte Honorarordnung, die sogenannte Übergangslösung. Sie erscheint im November 2018. Die Änderungen betreffen vor allem die Methode der Honorarberechnung (Art. 7 SIA 102: «Honorarberechnung nach den aufwandbestimmenden Baukosten»). Sie lassen sich in zwei Sachgebiete einteilen.

Beim ersten Änderungsbereich geht es um Honorarfaktoren und Honorarzuschläge aller Art. Neu ist es hier nicht mehr erlaubt, auf teilweise uralte Erfahrungswerte zurückzugreifen. Vielmehr müssen die Werte zwischen Bauherrn und Planer individuell vereinbart werden. Ein Beispiel dafür ist der traditionelle Honorarfaktor des Schwierigkeitsgrads n. Vor der Übergangslösung hat man in einer umfangreichen Tabelle nachschauen können, welcher Schwierigkeitsgrad für eine bestimmte Bauaufgabe angemessen ist. Jetzt gibt es diese Tabelle nicht mehr, und der Wert von beispielsweise 1.1 (was der Baukategorie V entspricht) muss projektabhängig von den Vertragsparteien ausgehandelt werden.

Der zweite Änderungsbereich umfasst die Art und Weise, wie der prognostizierte Zeitaufwand als Resultat der Honorarformel aufzufassen ist. Neu stellt er nicht mehr einen festen Wert dar von beispielsweise 1’700 Stunden. Vielmehr ist er einer Streuung unterworfen. In 25% der Fälle kann der Zeitaufwand auch nur 1’300 Stunden ausmachen, während er in weiteren 25% sogar 2’200 Stunden beträgt. Die Streuung lässt sich anhand eines Kalkulationstools berechnen, das nur auf der SIA-Homepage verfügbar ist.

Falls das oben Gesagte zur Übergangslösung für den nicht sachkundigen Bauherrn kompliziert erscheinen sollte, darf man ohne Umschweife feststellen: es IST kompliziert. Auch die Bauplaner als vorgesehene Benutzer werden aus der Übergangsordnung nicht schlau – und rebellieren umgehend. Ein Schrei der Entrüstung geht durch die Planerwelt.

Der kollektive Widerstand ist so gross, dass man seitens des SIA eine Zeitlang daran denkt, die Übergangslösung schon Ende Mai 2019, also nach sechs Monaten, wieder zurückzuziehen. Diese vorzeitige Kapitulation vermeidet man dann aber doch und vollzieht den Rückzug plangemäss erst Ende 2019.


Literaturhinweis
Eine ausführliche Beschreibung der Übergangslösung ist in folgendem Blogbeitrag von mir zu finden:
«Aktuelle Entwicklungen im SIA-Honorarwesen (bis 2019)»

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1.3 Ausgabe 2020 der SIA-Honorarordnung

Wie oben bereits erwähnt, kommen Anfang 2020 die neuen Ausgaben der Leistungs- und Honorarordnungen (LHO) des SIA heraus, bei denen die SIA LHO 102 (Architekten) ein Teil der Familie ist. Allerdings fehlt die Honorarformel. Sie ist bisher in Art. 7 SIA LHO 102 der Ausgabe 2014 enthalten gewesen (unter der Bezeichnung «Honorarberechnung nach den aufwandbestimmenden Baukosten»).

Was sich abgesehen vom Rückzug der Honorarformel sonst noch geändert hat, weiss ich nicht genau. Dem Vernehmen nach sind es nur kleinere Sachen. Ich habe die SIA LHO 102 (2020) nämlich nicht gekauft, weil ich wahrscheinlich kaum jemals damit arbeiten werde. So wie wohl die meisten Planer auch weiterhin die Ausgabe 2014 benutzen, tue ich das als Bauherrenberater logischerweise auch.

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1.4 Honorarwesen ohne Honorarformel grundsätzlich möglich

Es erstaunt mich etwas, dass der SIA in der Ausgabe 2020 der LHO die traditionelle SIA-Honorarberechnung ersatzlos weglässt und nicht etwas Neues vorschlägt. Konkret denke ich an ein NICHT-bausummenabhängiges Honorierungskonzept, worüber man sich beim SIA seit mindestens 25 Jahren Gedanken macht.

Grundsätzlich wäre es nämlich möglich, die Honorarsumme komplett unabhängig von der Projektgrösse (Bausumme) zu kalkulieren. Zu diesem Zweck müsste man zunächst einen möglichst realistischen Vorgehensplan erstellen. Daraus könnte man den Bedarf an Personal abschätzen (budgetierter Zeitaufwand für Entwurf, Zeichnungsarbeiten, Bauleitung etc.). Multipliziert mit den Stundenansätzen würde sich das Honorar ergeben.

Ein ähnliches Vorgehen der Honorarkalkulation wird in den meisten grossen Dienstleistungsbereichen angewendet, etwa im Treuhandwesen oder der Unternehmensberatung. Ich selber habe zum Beispiel praktisch in meinem ganzen Berufsleben meine Honorare auf diese Weise kalkuliert. Bei der Bauherrenberatung und der Industrieplanung gibt es nämlich keine Honorarformel.

Wie bereits angesprochen, unternimmt der SIA schon vor rund 25 Jahren Anläufe im Hinblick auf eine nicht bausummenabhängige Honorierung. Es entsteht das Leistungsmodell 95 (LM 95). Die Planerleistung wird hier mit einem projektspezifischen Leistungsbeschrieb definiert. Daraus leitet man den zeitlichen Aufwand für die Planertätigkeiten ab, was die Grundlage für das Honorarangebot ist. Das Honorar ist nicht abhängig von der Bausumme, Honorarformel gibt es keine.

Dieses Modell stösst in der Planerwelt aber nicht auf grosse Akzeptanz, weshalb es wieder in der Versenkung verschwindet.


Literaturhinweise
Das Leistungsmodell 95 (LM 95) wird im Rahmen des bei Punkt 1.1 bereits angegebenen Literaturhinweises über die historische Entwicklung des SIA-Honorarwesens besprochen, und zwar auf den Seiten 27 bis 29.
Zur Wiederholung sei nochmals das Buch von mir angegeben:
Bauplanerhonorare – Ratgeber für Bauherren (2017).
Nähere Angaben zum Buch hier >>>

Das Thema der Notwendigkeit einer Honorarformel für Bauplanerleistungen wird auch in folgendem Blogbeitrag diskutiert:
«Braucht es im Bauplanungsgewerbe überhaupt eine Honorarformel?»
Speziell hinweisen möchte ich auf folgenden Abschnitt (gegen Ende des Blogbeitrags):
Argument 2 -> Die Bauplanungsbranche bewies in einer längeren Ausnahmephase, dass sie auch ohne zuverlässige Honorarformel auskommt

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2. Rettet die WEKO die SIA-Honorarformel?

Es sieht so aus, dass es die WEKO ist, welche in jüngster Vergangenheit das traditionsreiche Honorarwesen des SIA kurz vor dem Absturz rettet. Wie die Rettungsaktion genau abläuft, weiss ich als völlig Aussenstehender natürlich nicht. Aber es ist eine Tatsache, dass die WEKO die Anwendung der Ausgabe 2014 der SIA-Honorarordnung weiterhin toleriert, die sie eigentlich hat verbieten wollen. Allerdings ist diese Toleranz nicht unbeschränkt und gewissen Auflagen unterworfen.

Anscheinend wird der WEKO im Laufe des Jahres 2019 bewusst, in welche hilflose Lage sie den SIA bringt. Dieser unternimmt alles, um die Übergangslösung so zu entschärfen, dass sie nicht mehr in Verdacht geraten kann, wettbewerbshemmend zu sein. Wie wir oben gesehen haben, umfassen die Änderungen zwei Themenbereiche:

— Erstens
die meisten Erfahrungszahlen für die Variablen in der Honorarformel (Honorarfaktoren) werden entfernt (beispielsweise die Erfahrungszahlen zum Schwierigkeitsgrad)

— Zweitens
der mutmassliche Zeitaufwand als Resultat der Honorarformel wird nicht mehr als feste Grösse aufgefasst, sondern unterliegt einer Unschärfebetrachtung

Die Modifikationen führen zum Resultat, dass die zahnlose Honorarformel unbrauchbar wird. Die Formelanwender laufen Sturm dagegen.

Die WEKO dürfte möglicherweise einsehen, dass es nicht so einfach ist, eine kartellrechtlich völlig unbedenkliche Honorarberechnung zu finden, sofern man an der Bausumme als Ausgangsgrösse festhalten will. Der SIA betreibt bei der Lösungssuche ja keine Obstruktion, sondern setzt sich im Gegenteil nach Kräften für einen konstruktiven Vorschlag ein. Der WEKO dürfte daher dämmern, dass sie vom SIA etwas faktisch Unmögliches verlangt (was aber eine reine Vermutung von mir ist). Darum erlaubt sie dem SIA, die bisherige Ausgabe 2014 der SIA-Honorarordnung weiter zu verwenden.

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2.1 Aussagen zur Weiterverwendung der Ausgabe 2014 der LHO

Die nachfolgenden zwei Zitate zum Thema der Weiterverwendung der Ausgabe 2014 habe ich bereits im Blogbeitrag «Aktuelle Entwicklungen im SIA-Honorarwesen (bis 2019)» benutzt, und ich gebe sie hier nochmals wieder.

Zitat 1
Aussage von: Daniela Ziswiler (Leiterin Ordnungen des SIA)
Quelle: tec 21 vom 29. März 2019

Aus der Sicht der Weko stellt es sich so dar, dass den Auftraggebern keine Vorgaben gemacht werden können und diese sich nach wie vor auf das Honorarberechnungsmodell der LHO aus dem Jahr 2014 berufen und dies sogar vertraglich vereinbaren können. Es wird aber nicht mehr möglich sein, dass Auftragsnehmende unter Berufung auf die LHO dieses Modell einfordern

Zitat 2
Aussage von Marco Waldhauser (Präsident der SIA-Berufsgruppe Technik)
Quelle: tec 21 vom 24. Mai 2019

Ich gehe davon aus, dass sich die betroffenen Büros zur Aufwandschätzung weiterhin der bekannten Formeln bedienen werden. Auch sind mir einzelne öffentliche Auftraggeber bekannt, die sich in ihren vertraglichen Vereinbarungen aktuell an den LHO Ausgabe 2014 orientieren. Beides ist wohlgemerkt nicht verboten. Verboten ist einzig, dass der SIA als Branchenverband entsprechende Empfehlungen publiziert. In anderen Ländern wie Österreich funktioniert das ähnlich. Somit wird sich wohl hauptsächlich die Art der Honorarargumentation verändern. Dazu muss sich jedes Büro auf seine Weise mit dem Thema auseinandersetzen.

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2.2 Welche Ausgabe der LHO dürfte in Zukunft benutzt werden?

Aus dem oben gesagten lässt sich schliessen, dass es legal ist, wenn die Bauherrschaft die Wahl der Ausgabe 2014 der LHO verlangt. Nicht legal ist es jedoch, wenn der SIA und seine Mitglieder, also die Planer, dies verlangen (siehe dazu Zitat 1, oben).

Soweit die Theorie. In der Praxis ist es aber so, dass im Normalfall die Planer vorschlagen, wie die Honorierung geregelt werden soll, insbesondere bei nicht sachkundigen Bauherrschaften. Da die Planer nichts anders kennen nach die Honorierung nach dem Zeitaufwandmodell, dürften sie regelmässig diese empfehlen. Bei Gelegenheitsbauherrschaften dürfte somit die Wahl der Ausgabe 2014 der LHO der Normalfall sein. In der Zeit seit der Inkraftsetzung der neuen LHO ohne Honorierungsteil per Januar 2020 habe ich jedenfalls noch nie etwas anderes gesehen. Aber meine Markteinsicht ist natürlich nicht repräsentativ.

Im Klartext heisst dies: Der Reformierungsversuch der LHO mit der Übergangslösung 2018/19 ist ein Schlag ins Wasser. Hinsichtlich der Honorierung bleibt für den Gelegenheitsbauherrn alles beim Alten.

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2.3 Die Ausgabe 2014 der LHO – eine nicht ganz normale Norm

Ganz legal scheint mir die Anwendung der Ausgabe 2014 der LHO des SIA nicht zu sein. Immerhin ist es eine Norm, die vom SIA ausser Kraft gesetzt und durch die Ausgabe 2020 ersetzt worden ist. Man kann sie beim SIA nicht mehr kaufen.

Wer mit der alten Norm des Ausgabejahrs 2014 arbeiten will, muss sie somit irgendwie antiquarisch erwerben, sofern er sie nicht schon besitzt.

Zudem ist mir nicht ganz klar, wie es der SIA handhabt mit den beiden statistischen Koeffizienten (Z-Werten), die für die Anwendung der Honorarformel des Zeitaufwandmodells nötig sind. Aus ihnen wird der Grundfaktor p berechnet, einer der Honorarfaktoren. Bis Ende 2019 sind die Z-Werte auf der Homepage des SIA publiziert worden. Da das Zeitaufwandmodell jedoch seit 2020 keine aktive Honorarberechnungsmethode mehr darstellt, scheint der SIA auch die Z-Werte nicht mehr öffentlich einsehbar bekannt zu geben. Dies jedenfalls ist das Ergebnis meiner Recherchen. Ich habe im Zusammenhang mit Abklärungen zu diesem Blogbeitrag auf der Homepage des SIA nach aktuellen Z-Werten gesucht (Stichdatum 13. Juni 2020), und ich bin nicht fündig geworden. Die letzten Z-Werte stammen aus dem Jahr 2019 und beziehen sich auf die Übergangslösung 2018/2019.

Muss man sich nun in Zukunft periodisch beim SIA über den Stand der Z-Werte erkundigen? Oder gelangen sie im Verlauf der nächsten Jahre allmählich doch wieder auf die Homepage? Wir werden sehen, aber ich vermute Letzteres.

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2.4 Hat die WEKO seit 2002 ihren Biss verloren?

Wir erinnern uns daran, dass die WEKO in der Vergangenheit gegenüber dem SIA sehr forsch aufgetreten ist. Sie hat dem SIA Ende 2001 das Ultimatum gestellt, die erst vor einem halben Jahr publizierten neuen SIA-Honorarordnungen des Ausgabejahrs 2001 wieder abzuändern. Folge davon sind die Honorarordnungen des Ausgabejahrs 2003 gewesen, welche auf dem Zeitaufwandmodell basiert und eine Abkehr vom historischen Kostentarif bedeutet haben.

Diese Entschlossenheit finden wir beim Vorgehen der WEKO in den Jahren 2018/19 nicht mehr. Sie leitet zwar eine Vorabklärung ein und stellt mögliche Bussen in Aussicht. Nachdem der SIA aber die Übergangslösung (November 2018) präsentiert, die sich in der Praxis als unbrauchbar erweist, schlägt die WEKO eine milde Gangart ein. Die neue Honorarordnung des Ausgabejahrs 2020 erscheint zwar ohne Honorarformel, aber die WEKO toleriert anscheinend ziemlich grosszügig, dass weiterhin die Ausgabe 2014 verwendet wird.


Literaturhinweis
Einige der Ausführungen in diesem Abschnitt basieren auf einem Blogbeitrag, den ich bereits weiter oben angegeben habe:
«Aktuelle Entwicklungen im SIA-Honorarwesen (bis 2019)»

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3. Entgleitet dem SIA seine Honorarformel?

Wir haben weiter oben festgehalten, dass wir die bausummenabhängige Ermittlung des Honorars meinen, wenn wir von der Honorarformel des SIA sprechen. Soweit ich die Geschichte des Honorarwesens selber zurückverfolgen kann, ist diese Honorarformel bereits in der Ausgabe 1969 der Familie der Honorarordnungen enthalten, welche die Zeit bis zur Jahrtausendwende prägt. Aber wahrscheinlich ist die grundsätzliche Methode der Honorarberechnung aus der Bausumme noch deutlich älter, vielleicht schon hundert Jahre alt. Genauere Nachforschungen habe ich dazu jedoch nicht angestellt.

Die SIA-Honorarberechnung hat also eine grosse Vergangenheit – aber hat sie auch eine Zukunft? Es macht den Anschein, dass dem SIA seine Honorarformel immer mehr entgleitet. Damit befassen wir uns in diesem Abschnitt.

In unserer Betrachtung unterscheiden wir vier Phasen.

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Phase 1: Die grosse Zeit der Honorarformel (bis ca. 2000)

Lange zweifelt niemand die Hoheit des SIA über seine Honorarformel an. Die Methode der Honorarermittlung wird auch als Kostentarif bezeichnet: Der Tarif der Planungsleistung ergibt sich aus den Baukosten. Und wie es bei einem Tarif halt so ist, kann man über dessen Höhe nicht diskutieren, oder höchstens sehr beschränkt: Tarif ist Tarif. Die Post beispielsweise hat für ihre Dienstleistungen auch einen Tarif. Wer einen Brief befördern lassen will, muss für die Briefmarke den aufgedruckten Preis bezahlen. Feilschen ist sinnlos.

Ähnlich ist es im Bauplanungsgewerbe. Die Honorarformel des SIA hat den Charakter einer ausgeklügelten Preisliste. Mit der Formel setzt der SIA seine Vorstellung der Preisbestimmung von Planungsleistungen rigoros durch. Es dürfte nicht falsch sein, von einem Preiskartell zu sprechen. Unterschiedliche Planungsbüros kommen bei der Honorarkalkulation für die gleiche Planungsaufgabe tendenziell zu ähnlichen Resultaten. Abweichungen vom «richtigen» Preis gibt es aber zu jeder Zeit. Ursache dafür können Preisnachlässe aufgrund einer Konkurrenzsituation sein oder günstige Preise aus reiner Gefälligkeit. Aber der SIA achtet darauf, dass das Gewähren von Rabatten nicht überbordet. – Diese goldene Phase dauert etwa bis zum Jahr 2000.

Die Honorarformel hat nur fünf Honorarfaktoren (B, p, n, q und r). Deren Bedeutung ist so klar, dass alle Anwender die Formel verstehen. Es bleiben kaum Fragen offen.

Die grosse Zäsur beginnt 1995. In diesem Jahr wird das Kartellrecht verschärft, und die schöne Herrlichkeit geht ihrem Ende entgegen.

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Phase 2: Zeitaufwandmodell (2003 bis 2018)

Die revidierte Honorarformel von 2003 (Zeitaufwandmodell) ist stark von der WEKO geprägt, welche verstärkte Preisdifferenzierung anstrebt. Preisabsprachen sind nun verboten, unterschiedliche Planer sollen für die gleiche Planungsaufgabe zu nicht abgesprochenen (also unterschiedlichen) Honoraren kommen.

Zur Preisdifferenzierung tragen aus meiner Sicht vor allem zwei neue Honorarfaktoren bei: der mittlere Stundenansatz h sowie der Teamfaktor i.

Während beim frei wählbaren mittleren Stundenansatz der Beitrag zur Preisdifferenzierung sofort ersichtlich ist, wollen wir uns mit dem Teamfaktor etwa genauer befassen. Mit ihm hält die Produktivität des anbietenden Planungsbüros Einzug in die Honorarkalkulation. Ein überdurchschnittlich produktives Büro ist in der Lage, den Standard-Zeitaufwand (durchschnittlicher Zeitaufwand) gemäss Honorarformel zu unterschreiten. Mit einem Teamfaktor kleiner als 1 wird der auftragsspezifisch prognostizierte Zeitaufwand kleiner als der Standard-Zeitaufwand. Somit trägt auch der unterschiedliche Zeitaufwand zur Preisdifferenzierung bei.

Der Teamfaktor i scheint dem SIA von Anfang an ein Dorn im Auge zu sein. Er warnt seine Mitglieder davor, einen unbegründet tiefen Teamfaktor i zu wählen, was als unlauterer Wettbewerb aufgefasst werden könnte. Im Extremfall drohe der Ausschluss aus dem SIA (Quelle: tec21, 3-4/2004, Seite 26).

Generell ist das Zeitaufwandmodell mit seinen nunmehr neun Honorarfaktoren (B, p, n, q, r, U, i, s, h) für viele Formelanwender zu kompliziert. Speziell unverständlich erscheint der Teamfaktor i, der von vielen Kalkulatoren von Planungsleistungen entweder negiert oder gleich ganz weggelassen wird.

Manchmal beschleicht mich sogar der leise Verdacht, dass das Zeitaufwandmodell sogar für den SIA selber zu komplex geworden ist. Ein Beispiel dafür ist die Aussage des SIA, dass bei der Übergangslösung für diverse Honorarfaktoren keine Vorschläge für die Zuweisung von numerischen Werten mehr gemacht werden. So weit, so gut. Konkret gelte dies gemäss SIA auch für den Teamfaktor i (Quelle: Fachartikel des SIA im tec21; datiert 1. Nov. 2018: «Die Brücke bis ins Jahr 2020 steht»). Hier liegt aus meiner Sicht der SIA falsch. Für den Teamfaktor i hat es nie ein Set von zuweisbaren numerischen Werten gegeben, und es wird auch nie welche geben. Bei den meisten Honorarfaktoren trifft es zwar zu, dass man statistische Abklärungen machen kann. Aber beim Teamfaktor verbieten sich statistische Analysen. Es liegt allein bei der anbietenden Planungsfirma, sich Überlegungen zum Teamfaktor zu machen, und dazu werden selbstverständlich ausgereifte firmeninterne statistische Grundlagen benötigt. Wozu zusätzlich noch statistische Abklärungen des SIA gut sein sollen, erschliesst sich mir nicht so richtig. Aber vielleicht täusche ich mich auch.

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Phase 3: Übergangslösung 2019

Bei der Übergangslösung gibt es offensichtliche Forderungen der WEKO hinsichtlich der Konzeption der Formel. Noch mehr Preisdifferenzierung als bisher dürfte die Vorgabe sein. Die Modifikationen, die dann an der Formel vorgenommen werden, überspannen den Bogen. Vor allem die Unschärfebetrachtung zum Zeitaufwand ist den durchschnittlichen Formelanwendern völlig unverständlich.

Die Übergangslösung stösst auf strikte Ablehnung. Es ist schon fast ein Zeichen von Panik, dass es viele Stimmen gibt, sie nach nur sechs Monaten schon wieder zurückziehen wollen.

Mit der Übergangslösung implodiert die SIA-Formel der bausummenabhängigen Honorarberechnung. Der SIA verliert den Zugriff auf sie.

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Phase 4: Suche nach einer neuen Honorarberechnung

Man gewinnt den Eindruck, dass es der SIA nicht eilig hat bei der Suche nach einer neuen Lösung für das Honorarwesen. Ich habe vernommen, dass es bis fünf Jahre dauern könne, bis man wieder eine Lösung habe. Fünf Jahre für die Entwicklung einer Honorarordnung zeugt nicht unbedingt von übertriebener Eile. (In dieser Zeit fliegt man auf den Mars).

Man muss den SIA aber verstehen. Die jetzige Situation, in der er einfach die Ausgabe 2014 der LHO weiterverwenden kann, ist für ihn ideal. Er würde sich wahrscheinlich nicht dagegen wehren, wenn dieser Zustand sehr lange andauern würde – zum Beispiel auch zehn Jahre.

Vielleicht ist der mangelnde zeitliche Ehrgeiz des SIA auch darauf zurückzuführen, dass es ihm verleidet ist, an einer neuen Honorarordnung zu arbeiten. Sofern man an der bausummenabhängigen Honorarkalkulation festhalten will, sieht man einfach keinen praktikablen Weg. Die Erfahrungen der Zeit um 2018/019 zeigen es: Man ist bei der Konzeption des Honorierungsmodells allen Wünschen der WEKO nachgekommen, und das Resultat ist ein Debakel gewesen.

Das Vorgehen des SIA hinsichtlich der Honorarordnung scheint von Fatalismus geprägt zu sein: abwarten, Tee trinken, ja keine Hektik aufkommen lassen.

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4. Abschlussbemerkungen

In den Abschlussbemerkungen werfe ich zuerst einen Blick zurück, dann einen Blick voraus.

4.1 Rückblick

Versuchen wir, Bilanz zu ziehen zu dem, was in der Zeit seit 2017 auf dem Gebiet des SIA-Honorarwesens passiert.

Diese Zeit ist gespenstisch. Sie ist geprägt von zwei neuen Honorarordnungen, die man nicht richtig gebrauchen kann. Bei der Übergangslösung von November 2018 ist der Fall klar: Die Unbrauchbarkeit stellt sich sehr schnell heraus, und sie wird darum wieder zurückgezogen.

Bei der Ausgabe 2020 der LHO ist der Fall nicht so ohne weiteres klar, denn es gibt bei der Inkraftsetzung überhaupt keine Widerstände. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sie von den meisten Anwendern des SIA-Honorarwesens gar nicht benutzt wird. Eine LHO ohne Honorarberechnungsteil ist halt schon nur eine halbe Sache.

Bei Lichte betrachtet können wir somit feststellen, dass die beiden letzten Honorarordnungen (also die Übergangslösung 2018 und die Neuausgabe 2020) nur für die WEKO gemacht werden.

Das Gros der Planer arbeitet in der Praxis mit der Ausgabe 2014 der LHO weiter.

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4.2 Ausblick

Mein Ausblick ist sehr spekulativ. Ich vermute, dass der SIA kaum von seiner bausummenabhängigen Honorarformel wegkommen wird – weil seine Mitglieder als Formelanwender dies einfach nicht wollen.

Bis auf weiteres ist die Situation komfortabel für den SIA. Wie länger sie andauert, umso besser.

Falls der SIA etwas ganz Neues bringt, werden seine Mitglieder vielleicht rebellieren. Und einfach mit dem weiterarbeiten, was sie jetzt haben. Also mit der bausummenabhängigen Honorarformel, die es in den Grundzügen seit vielleicht 100 Jahren gibt.

Man sollte die Beharrlichkeit der Formelanwender nicht unterschätzen. Es ist noch nicht lange her (im Jahr 2018), da habe ich noch zwei Architekten getroffen, die unbeirrt mit der Ausgabe 1984 der SIA-Honorarordnung gearbeitet haben. Ihre Honorarordnung ist also 34 Jahre alt. Sie haben den Übergang zum Zeitaufwandmodell im Jahr 2003 gar nie mitgemacht und kalkulieren ihre Honorare unverdrossen mit dem uralten Kostentarif. 

Das Gleiche kann mit der Ausgabe 2014 der LHO passieren: Vielleicht wird sie noch in zwanzig Jahren angewendet.


Literaturhinweis
Im aktuellen Buch von mir über das Honorarwesen wird die Ausgabe 2014 der Leistung- und Honorarordnung beschrieben:
Bauplanerhonorare – Ratgeber für Bauherren (2017).
Nähere Angaben zum Buch befinden sich hier>>>

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In obigem Beitrag wird die Entwicklung auf dem Gebiet des SIA-Honorarwesens bis Juni 2020 dargestellt. Die Fortsetzung, die bis Ende November 2020 reicht, ist wie folgt zu finden:

«Willkommen in einer Planerwelt ohne offizielle SIA-Honorarformel (Ende 2020)» 

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Textgeschichte:
26. Mai 2023: Vorbemerkungen eingefügt

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Dieser Blog enthält Dutzende von Fachbeiträgen, die sich primär an Bauherrschaften richten. Sie sind gegliedert nach Sachgebieten. Die beiden wichtigsten Themenbereiche sind «Honorarfragen» und «Bauen mit einem Architekten». Benutzen Sie das Menu, um zu der Fragenkategorie zu gelangen, die Sie besonders interessiert. – Hans Röthlisberger, Bauherrenberater, Gwatt (Thun) / Schweiz


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