Alles ruhig im baulichen Honorarwesen (Mai 2023)

Lesedauer ca. 10 Minuten. –


Wir sprechen wieder einmal vom Honorarwesen im schweizerischen Bauplanungsgewerbe, einem der Kernthemen in diesem Blog.

Bekanntlich gibt es seit Anfang 2020 keine offizielle SIA-Honorarformel mehr zur bausummenabhängigen Honorarkalkulation. Wie geht die Bauwirtschaft damit um? Wir machen eine Bestandesaufnahme.

Der Blobeitrag ist wie folgt gegliedert:

  1. Vom Rückzug der Honorarformel
  2. Wie im Bauplanungsgewerbe zurzeit kalkuliert wird
  3. Drei Spezialfragen zum aktuellen Vertragswesen
    3.1 Vertragstechnisches – welchen Mustervertrag soll man anwenden?
    3.2 Juristisches – ist es legal, eine zurückgezogene Honorarordnung zu benutzen?
    3.3 Kommerzielles – stimmt die zurückgezogene Honorarformel zur Berechnung des Zeitaufwandes auch heute noch?

Anhang
Meine bisherigen Blogbeiträge zum SIA-Honorarwesen seit 2018

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1. Vom Rückzug der Honorarformel

Die bausummenabhängige Honorarberechnung hat eine lange Tradition im schweizerischen Bauwesen, es gibt sie vielleicht schon an die hundert Jahre. Wegen der schematischen Art der Honorarkalkulation gibt es aber auch schon seit Jahrzehnten einen Konflikt mit den eidgenössischen Wettbewerbsbehörden. Der Schweizerische Ingenieur- und Architekten-Verein (SIA) als Herausgeber der Formel ist aufgrund wettbewerbshemmenden Verhaltens unter Druck geraten, worauf er die Art der Honorarberechnung mehrfach abgeändert hat. Bei jeder Modifikation ist sie komplizierter in der Anwendung geworden, bis man sie am Schluss gar nicht mehr hat gebrauchen können. Dem SIA ist nichts anderes übrig geblieben, als den letzten Rettungsversuch für die Formel, die sogenannte Übergangslösung, zurückzuziehen, was Ende 2019 geschehen ist. Es gibt somit keine offizielle Formel mehr zur bausummenabhängigen Honorarkalkulation. Sie ist in der aktuell gültigen Ausgabe 2020 der SIA-Honorarordnungsfamilie 102 ff. nicht mehr enthalten, und auch im aktuellen Mustervertrag des SIA des Ausgabejahrs 2020 findet man sie nicht.

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2. Wie im Bauplanungsgewerbe zurzeit kalkuliert wird

Im Bauplanungsgewerbe kalkuliert man seit vielen Jahrzehnten das Honorar anhand der Bausumme, und alte Gewohnheiten gibt man nicht so schnell auf. Es verwundert deshalb nicht, dass man mangels Alternative die letzte Honorarformel für die Kalkulation verwendet, die noch anwendbar gewesen ist, nämlich diejenige von 2014. In der Praxis tut man so, wie wenn diese Formel nie zurückgezogen worden wäre. Darum ist auch die grosse Ruhe im Bauplanungsgewerbe zu erklären, was das Honorarwesen betrifft. Man verfügt mit das Ausgabe 2014 der Honorarformel nach den leidvollen Erfahrungen mit der Übergangslösung wieder über eine Berechnungsmethode, die brauchbar ist. Sie ist 2003 unter dem Begriff des Zeitaufwandmodells eingeführt worden und hat bei der Revision von 2014 nur geringfügige Änderungen erfahren. Man hat somit reichhaltige Erfahrungen mit ihr.

Meine Aussage zur aktuellen Praxis der Kalkulation basiert auf meinen Einblicken in den Markt. Aufgrund meiner Expertisentätigkeit zu Planerverträgen sehe ich zwar nur einen winzigen Ausschnitt des Marktes selber, aber die Erkenntnisse sind konsistent. Darum erscheint mir die Verallgemeinerung plausibel, dass grossflächig wieder die Ausgabe 2014 der SIA-Honorarordnung angewendet wird – und nicht die aktuelle gültige des Ausgabejahrs 2020.

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3. Drei Spezialfragen zum aktuellen Vertragswesen

Nachfolgend gehe ich auf drei Spezialfragen ein, die sich im Hinblick auf die Abfassung der Planerverträge stellen.

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3.1 Vertragstechnisches – welchen Mustervertrag soll man anwenden?

Zunächst geht es um die Frage, welche Ausgabe des SIA-Mustervertrags für Planerverträge benutzt wird. Es gibt zwei Möglichkeiten: die Ausgaben 2014 und 2020. In der Praxis findet man beide.

Vermutlich in der Mehrheit der Fälle dürfte die Ausgabe 2020 des Mustervertrags angewendet werden. Das Honorar wird, für die Bauherrschaft wohl meistens unsichtbar, anhand der SIA-Honorarformel des Ausgabejahrs 2014 berechnet und als Pauschalbetrag in den Vertrag eingesetzt. Im Mustervertrag selber kommt die Honorarberechnung nach den aufwandbestimmenden Baukosten nicht vor, man findet nicht einmal Spuren davon.

Die Ausgabe 2014 hat den Vorteil, dass man die Vereinbarungen zur bausummenabhängigen Honorarkalkulation im Detail abbilden kann. Dies kann im Einzelfall gewisse Vorteile haben, zum Beispiel dann, wenn die Bauabrechnung massgebend sein soll für die effektive Höhe des Honorars und nicht der Kostenvoranschlag. Die Höhe des Honorars wird also erst dann definitiv festgelegt, wenn das Bauvorhaben abgerechnet ist.

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3.2 Juristisches – ist es legal, eine zurückgezogene Honorarordnung zu benutzen?

Ist es legal, eine nicht mehr gültige (zurückgezogene) Version einer Honorarordnung als Basis für die Honorarkalkulation zu nehmen? Ich selber bin nicht Jurist und kann die Frage nicht beurteilen. Ich muss mich daher auf Aussagen von Personen verlassen, die weit kompetenter auf diesem Gebiet sind als ich.

Es fällt auf, dass man sich bereits 2018, als das Debakel mit der sogenannten Übergangslösung noch voll im Gange war, in Fachkreisen mit dieser Frage beschäftigt hat. Es scheint einigermassen Konsens zu herrschen, dass man weiterhin die ausser Kraft gesetzte Ausgabe 2014 verwenden kann. Wer sich näher mit dieser Streitfrage befassen möchte, sei auf meinen Blogbeitrag «Aktuelle Entwicklungen im SIA-Honorarwesen (bis 2019)» verwiesen, wo ich im Anhang des genannten Beitrags auf die wesentlichen Argumente eingehe (siehe dort insbesondere Buchstabe d). Zum Anhang gelangt man mit diesem Link >>>

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3.3 Kommerzielles – stimmt die zurückgezogene Honorarformel zur Berechnung des Zeitaufwandes auch heute noch?

Liefert die ausser Kraft gesetzte Honorarformel des Ausgabejahrs 2014 noch genügend genaue Ergebnisse, weil sie seit einigen Jahren nicht mehr unterhalten wird?

Bei dieser Frage müssen wir etwas ausholen. Man geht bei der baukostenabhängigen Honorarkalkulation nach SIA davon aus, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Baukosten und dem Zeitaufwand für die Planungsarbeit. Dieser Zusammenhang wird mit einer komplizierten Formel abgebildet. Sie ist in Art. 7.2 SIA 102 /2014 aufgeführt. Zu beachten ist insbesondere auch der Absatz 2 des genannten Artikels, der dem Grundfaktor p für den Stundenaufwand gewidmet ist. – Basis für die Konzeption der Formel sind zahlreiche ausgeführte Bauprojekte gewesen, bei denen der Zeitaufwand ermittelt worden ist.

Man hat die Formel von Anfang an so konzipiert, dass sie periodisch an veränderte Rahmenbedingungen angepasst werden kann. Sie wird somit fallweise neu kalibriert.

Ein Beispiel einer Rahmenbedingung, die sich ändern kann, ist die Teuerung. Wenn die Teuerung gross ist, steigen auch die Baukosten an. Der Zeitaufwand für die Planung muss dadurch aber nicht notgedrungen im gleichen Masse grösser werden. Darum muss die Formel periodisch neu kalibriert werden.

Zur Kalibrierung der Formel dienen die in der Welt des SIA gut bekannten Koeffizienten Z1 und Z2. Neue Werte werden vom SIA periodisch veröffentlich. Die letzten stammen meines Wissens aus dem Jahr 2017. Sie sind also jetzt (Stand 2023) 6 Jahre alt. Wahrscheinlich stimmen sie nicht mehr genau.

Um diese Ungenauigkeit zu relativieren, sollte man in Betracht ziehen, dass die Zeitaufwandberechnung anhand der SIA-Honorarformel grundsätzlich sehr ungenau ist. Grosse Ungenauigkeiten gibt es zum Beispiel beim Schwierigkeitsgrad n oder beim Umbaufaktor U. Es fällt meines Erachtens gar nicht so stark ins Gewicht, dass die Formel jetzt aufgrund nicht mehr nachgeführter Koeffizienten Z1 und Z2 für die Kalibrierung noch ungenauer wird,.

Irgend einmal dürfte aber der Punkt erreicht sein, dass die Formel wirklich nicht mehr stimmt. Aber auch dies ist meiner Ansicht nach nicht tragisch. Ein Architekturbüro, das es ernst nimmt mit der betrieblichen Nachkalkulation, wird merken, dass es eine systematische Abweichung gibt zwischen dem Stundenbudget gemäss Honorarformel und den effektiv aufgewendeten Stunden. Nehmen wir an, diese Abweichung betrage 10%. Das Architekturbüro benötigt also regelmässig 10% mehr Stunden als es gemäss Formel budgetiert hat. Dann gibt es eine elegante Lösung, um die Formel selber neu zu kalibrieren. Wir sprechen vom Teamfaktor i, der eigentlich ein Faktor für die Produktivität ist. Er ist nämlich im Jahr 2003 genau aus dem Grund neu in die Honorarformel eingefügt worden (wahrscheinlich auf Druck der Wettbewerbskommission WEKO), um projektbezogen allfällige Abweichungen vom Norm-Stundenbudget gemäss SIA vorzunehmen. Wie man in der Honorarordnung nachlesen kann, wird mit dem Teamfaktor i aus dem durchschnittlichen Zeitaufwand der auftragsspezifisch prognostizierte Zeitaufwand (Art. 7.3 SIA 102 / 2014).

Ich mache mir keine Sorgen darüber, ob man die SIA-Honorarformel in beispielsweise 15 Jahren noch anwenden kann. Man wird können, und man wird sie auch anwenden. Vielleicht wird der SIA sogar die Kalibrierungsfaktoren Z1 und Z2 nachführen, was mich nicht erstaunen würde. Die Planerwelt hat sich so stark gewöhnt an die Honorarformel, dass mindestens ein Teil des anwendenden Publikums nicht davon abrücken wird, selbst wenn einmal eine neue Honorarberechnungsmethode vom SIA verfügbar sein sollte.

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Anhang
Meine bisherigen Blogbeiträge zum SIA-Honorarwesen seit 2018

Zu den Turbulenzen im SIA-Honorarwesen der letzten Jahre habe ich bisher drei Blogbeiträge geschrieben, auf die ich nachfolgend kurz eingehe.

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Blogbeitrag publiziert 29. Dez. 2018
Aktuelle Entwicklungen im SIA-Honorarwesen (bis 2019)

Mein erster Blogbeitrag zu den Vorgängen im Honorarwesen trägt das Publikationsdatum 29. Dez. 2018. Zu diesem Zeitpunkt hat der SIA die so genannte Übergangsordnung bereits seit knapp zwei Monaten publiziert.

Die Ereignisse beginnen im Herbst 2017, als die Wettbewerbskommission WEKO dem SIA mitteilt, dass sie Vorabklärungen zum SIA-Honorarwesen aufgenommen habe. Dieses drohe gegen das Kartellrecht zu verstossen. Der SIA beginnt sofort, eine Übergangslösung auszuarbeiten, die diesbezüglich unproblematisch ist. Sie wird am 1. November 2018 publiziert.

Die Übergangslösung beschreibe ich im langen Blogbeitrag ausführlich (Kapitel A bis D). Ihre Kernmerkmale lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die meisten Erfahrungszahlen für die Variablen in der Honorarformel werden entfernt. Dies betrifft beispielswiese den Schwierigkeitsgrad n.
  • Der prognostizierte Zeitaufwand als Resultat der Honorarformel ist nicht mehr als fester Wert aufzufassen, sondern unterliegt einer Streuung. Zu deren Berechnung ist ein webbasiertes Kalkulationstool zu verwenden, das sich auf der Homepage des SIA befindet. Die ermittelten Stunden weisen somit eine Bandbreite auf, nach unten wie nach oben.

Die Übergangslösung gerät in der Planerbranche sofort in heftige Kritik. Das Aufschrei ist so gross, dass verlangt wird, sie bereits Ende Mai 2019 zurückzuziehen. Sie wäre dann nur auf eine Lebensdauer von 6 Monaten gekommen. Tatsächlich erfolgt der Rückzug aber erst Ende 2019, wie ursprünglich geplant.

Zur Übergangslösung erscheinen im Jahr 2019 in der Zeitschrift tec21 des SIA einige Fachartikel. Unter anderem ist dort zu lesen, dass es von der WEKO unter gewissen Voraussetzungen toleriert werden dürfte, wenn weiterhin die eigentlich zurückgezogene Ausgabe 2014 der SIA-Honorarordnungen benutzt wird. Auch auf diese wichtigen Fachartikel gehe ich in meinem ersten Blogbeitrag ein, und zwar am Schluss in einem Anhang, den ich am 30. Juli 2019 beigefügt habe. Unter den vier Abschnitten (a) bis (d) ist besonders der letzte zur Lektüre empfohlen. Zum Anhang gelangt man mit diesem Link >>>

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Blogbeitrag publiziert 14. Juni 2020
Vom Kampf um die SIA-Honorarformel im Bauplanungsgewerbe (ab 2020)

Zum Zeitpunkt der Publikation dieses zweiten Blogbeitrags Mitte 2020 über aktuelle Entwicklungen im SIA-Honorarwesen ist die Übergangslösung schon ein halbes Jahr zurückgezogen. Sie ist ersetzt worden durch die Ausgabe 2020 der SIA-Honorarordnung, welche die bausummenabhängige Honorarberechnung nicht mehr enthält.

Im Blogbeitrag mache ich nochmals eine Bestandesaufnahme zum Honorarwesen und unternehme einen Streifzug in die Geschichte der SIA-Honorarformel, wesentliche neue Gesichtspunkte tauchen jedoch nicht auf.

Aufgrund des Rückzugs der Honorarformel zur bausummenabhängigen Honorarberechnung gibt es in der Bauplanungsbranche keinen Aufruhr. Dies überrascht aber niemanden, der sich im Honorarwesen etwas auskennt. Der Grund für den fehlenden Aufschrei liegt darin, dass die Akteure im Bauplanungsgewerbe einfach die eigentlich zurückgezogene Ausgabe 2014 der SIA-Honorarordnung weiter verwenden, wo die Honorarformel der bausummenabhängigen Honorarberechnung noch enthalten ist (Art. 7 SIA 102 ff. / 2014: Honorarberechnung nach den aufwandbestimmenden Baukosten). Die Planerwelt kennt diese Formel bestens, die 2003 eingeführt worden ist und sich nun über 15 Jahre bewährt hat.

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Blogbeitrag publiziert 27. Nov. 2020
Willkommen in einer Planerwelt ohne offizielle Honorarformel (Ende 2020)

Zum Zeitpunkt der Publikation dieses dritten Blogbeitrags ist fast ein Jahr vergangen seit dem Rückzug der SIA-Honorarformel zur bausummenabhängigen Honorarberechnung.

Erneut wird festgehalten, dass eine neue Normalität herrscht im Planungswesen. Nach der Zeit der Verwirrnis mit der Übergangslösung 2018/2019 herrschen wieder klare Verhältnisse. Die meisten Akteure in der Baubranche arbeiten mit der Ausgabe 2014 der SIA-Honorarordnung, die eigentlich zurückgezogen worden ist und darum nicht mehr käuflich erwerbbar ist. Man tut so, wie wenn es die Ausserkraftsetzung nie gegeben hätte. Es herrscht Ruhe, Business as usual.

Fazit
Man liegt wahrscheinlich nicht so weit von der Wahrheit entfernt, wenn man sagt, dass die beiden letzten Ausgaben der SIA-Honorarordnungsfamilie 102 ff. primär für die Wettbewerbskommission WEKO erstellt worden sind. Die Übergangslösung (November 2018 bis Ende 2019) ist von Anfang an unbrauchbar gewesen. Die aktuell gültige des Ausgabejahrs 2020 wird in der Praxis kaum angewendet, ich persönlich habe sie nicht einmal erworben. Sie ist nur beschränkt praxistauglich, weil sie die bausummenabhängige Honorarberechnung nicht mehr enthält. Ein grosser Teil der Planerwelt verwendet nach wie vor die eigentlich ausser Kraft gesetzte Ausgabe 2014.

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Dieser Blog enthält Dutzende von Fachbeiträgen, die sich primär an Bauherrschaften richten. Sie sind gegliedert nach Sachgebieten. Die beiden wichtigsten Themenbereiche sind «Honorarfragen» und «Bauen mit einem Architekten». Benutzen Sie das Menu, um zu der Fragenkategorie zu gelangen, die Sie besonders interessiert. – Hans Röthlisberger, Bauherrenberater, Gwatt (Thun) / Schweiz


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